Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski – XXII.Der Gürzenich (3)

By 28. April 2022Hörstelle
Erschienen in der Neuen Rheinischen Zeitung Nr. 80, 81 und 83 vom 19., 20. und 23. August 1848.
»… Es lebe Sancho, der einfache Mann!« Mit diesem Absatz schloß die Fortsetzung des Erstdrucks in Nr. 81 der N. Rh. Z. der anschließende Teil in Nr. 82 vom 22. August 1848, der bis auf wenige Sätze in der Buchausgabe ganz fortfiel, lautete:
»Nachdem noch der Erzbischof von Köln den Segen über die Eintracht der Völker und der Fürsten ausgesprochen, v. Gagern einen Toast auf die Berliner Versammlung ausgebracht und der Vizepräsident des preußischen Parlamentes, Herr Philipp, für diese Artigkeit gedankt hatte, verließen Se. Majestät der König und der Erzherzog Reichsverweser den Saal. In ihrem Gefolge bemerkte man mehrere schöne Krieger in prächtigen Uniformen; im schwarzen Frack auch einen gewissen Fürsten Lichnowski. Weshalb sprach der Herr Lichnowski nicht ein einziges Wort? Der Abgeordnete Lichnowski würde uns gar zu glücklich gemacht haben, wenn er einmal das Feuerwerk seiner Beredsamkeit losgebrannt hätte. Wir hatten uns schon darauf gefreut. Wir lieben den Fürsten, er ist unser spezieller Freund, wir kennen ihn von seinen denkwürdigsten Seiten. Wir hätten für unser Leben gern eine Rede des geistreichsten aller Männer zu Protokoll genommen, welch ein Stoff für ein neues Feuilleton! Aber der Fürst verschmähte es, zu seinen besten Bekannten zu sprechen. Treulos verließ er den Saal – treuloser Fürst!
Die Heroen des Tages hatten geredet. Das Gürzenich-Bankett ging seinem Ende entgegen, schon war mein Österreicher in dem Studium des Speisezettels bis zu den Salatbohnen, zu dem gefüllten Geflügel und zu dem Nationalgerichte des Wandsbeker Boten fortgeschritten, da sollte die Feier plötzlich noch einen neuen Schwung durch das Auftreten des Abgeordneten Franz Raveaux erhalten. Der Jupiter der Nationalversammlung führte den kölnischen Deputierten an den blumenbekränzten Rand der Tribüne. Da stand nun der bleiche schnurrbärtige Mann, dessen Namen alle Zeitungen durch halb Europa trugen und den das letzte kleine Mädchen, der letzte spielende Knabe seiner Vaterstadt kennt. Raveaux ist nicht so berühmt wie der Kölner Dom; er ist fast so bekannt wie der kölnische Karneval, und jedenfalls wird er die Unsterblichkeit mit der Eau de Cologne teilen. Nach einer Jugend, die ebenso gewöhnlich als unbedeutend war, nach einem Jünglingsalter, das vom Schicksal nicht ungeschoren blieb, und nach einer Manneszeit, die halb und halb auf der mühsamcn Reise durch den Morast kleinbürgerlicher Misere verstrich, ist Raveaux teils durch eigenes Streben, noch mehr vielleicht durch das Spiel des Zufalls auf einen Punkt geraten, wo er fast mit einem besseren Manne sagen könnte:
“Nun ich hier als Altvater sitz,
Rufen sie mich auf Plätzen und Gassen,
Zu sehen bin ich wie der alte Fritz
Auf Pfeifenköpfen und auf Tassen.”
Ja, Raveaux ist ein großer Mann geworden. Wer kennt den Plato und den Sokrates? Einige Schulmeister und Gymnasiasten. Wer spricht noch von Newton und Milton? Einige Naturforscher und Poeten. Wer beschäftigt sich mit Sebastian Bach und mit Michelangelo? Einige Musikanten und Künstler. Wer aber weiß von Raveaux zu erzählen? Jeder Pfeifenkopf und jede Tasse!
Franz Raveaux hat den Gipfel des Ruhms erreicht, er steht auf der Höhe des Jahrhunderts. Wenn er noch nicht im Munde jedes Orgeldrehers lebt, so kann er noch dazu kommen; jedenfalls hat er es schon weiter gebracht, denn die Tabakshändler klebten das Bild ihres alten Konkurrenten, das Bild Raveaux’, auf ihre Tabakstüten!
Wir freuen uns, daß Raveaux so emporkam, wir freuen uns doppelt darüber, weil es uns lieber ist, wenn sich die Adler vom Staube erheben, als wenn sie von stolzen Forsten hinauf in die Wolken steigen, und wir freuen uns namentlich, daß er zu Ehren kam, weil unser Mitbürger schon vor dem großen Wendepunkt der neuen Zeit, weil er auch schon vor den Tagen der Revolution bei dem Volke zu Ehren zu kommen wußte.
Damit ist aber auch unsere freudige Teilnahme zu Ende. Die lokale Anhänglichkeit, mit der wir unsern Freund auf seinem Fluge begleiteten, sie verwandelt sich in ein ernstes Beobachten, sobald dieser Flug zu seinem ersten Ziele führte. Wir haben den Raveaux, der von Frankfurt für einige Zeit zurückkehrte, mit andern Augen zu betrachten als den Raveaux, den wir seinerzeit dorthin sandten.
Stadtliteraten berichteten seinerzeit in jenem komischen Mausefängerstil, der auch nicht die kleinsten Kinder davonzulocken pflegt, daß man dem nach Frankfurt abreisenden Deputierten in Brühl ein Fest gegeben habe. “Es war so schön”, heißt es bei dieser Gelegenheit, “in dem alten grünen Eichenhaine den kernigen Deputierten Raveaux, den Polizeidirektor Müller und den würdigen Präsidenten Heintzmann begeisterungsvoll von Deutschlands Einheit und Freiheit sprechen und ihre Aufforderung zu hören, aus Worten müsse nun auch die starke kräftige Tat werden.” Wir waren nicht so glücklich, diese Feier mitzumachen; wir sahen den frischgebackenen Deputierten erst, als er mit seinen Verehrern von Brühl nach Köln zurückgekehrt war und ans Fenster trat, um durch eine kurze Rede den festlichen Tag zu beschließen.
“Der heutige Tag ist ein hoher Freudentag”, sagte Herr Raveaux, “der heutige Tag ist ein unvergeßlicher für mich; möge er es auch für euch sein. – Preßt ihn euch tief – – tief ins Gedächtnis – die Bürgerschaft Kölns hat heute einen großen Sieg errungen. Vergeßt nie diesen schönen Tag! Es ist heute der 10. Mai – der 10. Mai lebe hoch! Ihr wähltet einen Mann, der die Eigenschaften besitzt, die den Kölner charakterisieren: treu, ehrlich und bieder.” Die rhetorischen Floskeln weggelassen, sprach Herr Raveaux nach den besten Überlieferungen wörtlich so. Nach unseren eigenen Notizen drückte sich der ehrenwerte Abgeordnete noch viel unzweideutiger aus. Soviel wir hörten, sagte Herr Raveaux nämlich geradezu: daß die Stadt Köln einen ewig denkwürdigen Tag erlebt habe, weil sie ihn, den Herrn Raveaux, zum Deputierten gewählt habe.
Man mußte lächeln über die Naivität eines Mannes, der so vor allem Volke erklärte, daß er treu, ehrlich und bieder sei. Wenn man etwas Takt hat, so ist man gewöhnlich so gescheit, derlei herrliche Eigenschaften nicht so renommierend zur Schau zu tragen; man bewahrt sie wie kostbare Juwelen und läßt sie nur zu rechter Zeit und am rechten Ort schimmern; am allerwenigsten nimmt man sie aber in den Mund. Die Prätension, ein treuer, ein ehrlicher und ein Biedermann zu sein, war Herrn Raveaux indes noch zu verzeihen. Wenn er als Redner auch eine Geschmacklosigkeit beging, so ließ sich die Sache trotzdem noch hören, da der schwärmerische Abgeordnete nicht zu einem kalten rücksichtslosen Publikum, sondern zu seinen Stadt- und Standesgenossen sprach, zu Leuten, mit denen er Billard gespielt, Wein getrunken und Mummenschanz getrieben hatte. In bei weitem größeres Erstaunen setzt uns die andere Behauptung, daß die Stadt Köln nur deshalb einen so ewig denkwürdigen Tag erlebt habe, weil sie gerade niemand anders als den Herrn Raveaux zum Deputierten wählte. Wir haben belgische Deputierte, wir haben viele französische Abgeordnete und wir haben noch mehr englische Parlamentsmitglieder zu ihren Wählern reden hören, aber wir müssen gestehen, es ist uns bei solchen Gelegenheiten nie eine so eitle und selbstüberschätzende Bemerkung zu Ohren gekommen.
Als der große Sir Robert Peel neuerdings wieder in Tamworth gewählt wurde, da sagte er nicht zu seinen Wählern: Bürger von Tamworth, ihr habt einen ewig denkwürdigen Tag erlebt, weil ihr mich, den großen Sir Robert Peel, zu eurem Abgeordneten wähltet – nein, Sir Robert sprach: Bürger von Tamworth, ich danke euch, daß ihr mich wähltet, und ich werde suchen, mich dieser Wahl würdig zu machen. So sprach Sir Robert Peel, der erste Mann Englands, einer der ersten Redner der Welt, der seit 30 Jahren die Geschicke seines Vaterlandes lenkt, der mit eiserner Faust das britische Szepter zu Ehren brachte in Europa, in halb Asien, in Australien und Amerika.
Ein Mann wie Sir Robert war bescheidener als Raveaux, bescheidener als der Mann, der nach einer allerdings anzuerkennenden lokalen Wirksamkeit sich erst die parlamentarischen Sporen zu verdienen sucht!
Raveaux ist jetzt für einige Zeit von Frankfurt zurückgekehrt. Die Ansichten über seine dortige Tätigkeit sind sehr geteilt; jedenfalls scheint man aber darüber einverstanden zu sein, daß er der Rechten ebensowenig schadete, wie er der Linken wenig nützte. Im Vorparlamente an den Republikaner streifend, hat der ehrenwerte Abgeordnete später durch seine Unschlüssigkeit und durch seinen Mangel an Energie einen Antrag aufgeben müssen, der dem Vaterlande von unendlichem Nutzen sein und dem ehrenwerten Antragsteller bei kräftigerem Auftreten zu unsterblichem Ruhme gereichen konnte, sowie später, wir bedauern es aufrichtig, in betreff des französischen Votums nicht aus eigenem demokratischem Instinkt gehandelt,  sondern nur mit vorbereitetem Enthusiasmus den Auftrag einer parlamentarischen Koterie ausgeführt.
Nichtsdestoweniger erkennen wir das Gute der Raveauxschen Tätigkeit gern an. Aber dafür hat er denn auch den Dank seiner Vaterstadt in einem Empfang geerntet, wie ihn Könige und Kaiser nicht besser verlangen konnten. Es machte einen eigentümlichen Eindruck auf uns, als wir bei der neulichen Ankunft Raveaux’ auf der Brücke unseres schönen Stromes standen und seine Wellen von Feuer wogen, den Himmel von Raketen sprühen und die alte graue Stadt plötzlich von Fackeln und Lichtern taghell beleuchtet sahen, als wir den Jubelruf vieler Tausende vernahmen, die sich hin- und herüberdrängten, und als wir dann mit einem Male daran dachten, wie man noch vor wenigen Wochen statt aller dieser Festlichkeiten einen Mann wie Camphausen mit nichts anderm als damit erfreute – daß man ihm die Fenster einwarf!
Raveaux und Camphausen – Camphausen und Raveaux! Wir haben gewiß nicht zu denen gehört, die dem Ministerpräsidenten während seiner kurzen Herrschaft Rosen und Lorbeeren streuten; wenn irgendein Organ die Schwäche des Herrn Camphausen zu rügen wußte, so war es das unsrige – aber Herrn Camphausen mit Raveaux vergleichen – wir müssen gestehen, wir möchten es nicht wagen!
Doch genug. Der Repräsentant des Kleinbürgertums hat sich wohl gehütet, des Falls des Repräsentanten der hohen Bourgeoisie zu gedenken. Wie Herr Raveaux nach jenem Brühler Feste erklärte, daß die Stadt Köln einen ewig denkwürdigen Tag erlebt habe, weil sie ihn zum Deputierten wählte, so hat er neulich nach jenem brillanten Empfang seinen gutmütigen Wählern erklärt, daß sie durch eine derartige solenne Aufnahme seine Verdienste nur gebührend anerkannt hätten. Wir überlassen den Herrn Raveaux seiner eigenen Klugheit und der Aufmerksamkeit seiner Wähler; wir warnen ihn aber vor seiner Eitelkeit und vor seiner Selbstüberschätzung. Es sollte uns leid tun, wenn der geszmde Menschenverstand und das gefällige Talent des Herrn Raveaux einmal auf eine zu harte staatsmännische Probe gestellt würden und wenn dann der ehrenwerte Deputierte strauchelte und unsere wohlwollende Kritik von einer schärferen Feder fortgesetzt werden müßte und die Bonhomie alter Billard- und Fastnachtsgenossen, durch die Eitelkeit des großen Deputierten verletzt, sich in Spotten und Lächeln verwandelte und aus den Fackelzügen düstere verdrießliche Nächte würden, aus den Jubelouvertüren Katzenmusiken und aus dem berühmten kölnischen Staatsmann ein enttäuschter Parvenu.
Oh, das wäre sehr schlimm! Da werden die lieblichen Frauen und Mädchen nicht mehr aus den Tassen trinken, auf denen ihr Raveaux steht; da werden die lustigen Burschen die Pfeifenköpfe zerbrechen, auf denen das interessante schnurrbärtige Antlitz ihres alten Freundes strahlt, und da wird der Ruhm des großen Mannes verrauchen wie der Tabak, den sein bleiches Bildnis schmückt.
Ja wahrhaftig, die Eau de Cologne wird dann zuletzt noch berühmter bleiben als Herr Raveaux.
lch bitte meine Leser aufs demütigste um Verzeihung, daß ich von Herrn Raveaux nicht schon längst zu viel wichtigeren Personen und Sachen übergegangen bin. Aber Herr Raveaux ist nun einmal Abgeordneter – –
Wir waren langmütig mit unseren Fürsten, und wir sind elend gewesen jahrhundertelang. Begehen wir nicht dieselbe Torheit mit unseren Deputierten!
Herr Raveaux hielt auf dem Domfest des Gürzenich eine unbedeutende Rede.«
Der Kölner Abgeordnete für die Frankfurter Nationalversammlung Raveaux war bereits am 3. August 1848, von seinen Parlamentspflichten in die Vaterstadt kommend, mit lärmender Feierlichkeit begrüßt worden (übrigens mit seinem Original-Festlied von Inkermann).

 

(aus: Georg Weerth, Sämtliche Werke, Bd. 4, Hrg. Bruno Kaiser, Aufbau-Verlag 1957)