Klaus Pawlowski: Die Moritat vom treuen Staatsdiener

By 23. April 2022Tagebuch

In letzten Jahr war‘s, im späten August,
der Sommer zeigte sich schwach auf der Brust.
Doch im Reichstag war nach ruhiger Nacht
der Plenarsaal frisch aus dem Schlaf erwacht

und freute sich nach der Sommerpause
auf den ersten Sitzungstag im hohen Hause.
Ein Saaldiener putzte grad Staub aus den Ecken,
da fand er etwas, das ließ ihn erschrecken.

Denn da saß auf dem Platz vierhundertundneun
ein Abgeordneter. Wie kann das sein?
Es war doch erst sechs. Er schaute kurz nach:
Ernst Betz (CDU) aus Maria Laach.

Der saß da ganz ruhig, etwas schiefgewichtig,
die Hände gefaltet und schlief offensichtlich.
Doch da! Als der Diener ihn sanft gepackt
an der Schulter, da ist er nach vorne gesackt

auf den Berg von Papieren, die vor ihm lagen.
Und dann war es klar – wie soll ich es sagen –
Ernst Betz war verstorben, welch graus’ge Enthüllung
war verschieden im Akte der Pflichterfüllung.

Und man stellte fest, das ist das Absurde,
dass er nicht etwa vergessen wurde
beim plötzlichen Aufbruch zur Sommerpause.
Man rechnet, er habe dem Hohen Hause

zwei Jahre als Toter schon beigesessen.
Welch würdiges Ende. Denn er nahm unterdessen
– zwar wortkarg, doch immerhin äußerlich heil –
geduldig an allen Sitzungen teil.

Und das sei – so hat man der Presse erklärt –
ein stolzer Rekord, echt bewundernswert.
Da zeige sich klar (wenn man das schon lese):
Politikverdrossenheit? Alles nur Käse!

Erschütterung bei der Parteifreundin Maas,
die ahnungslos neben dem Schweigsamen saß.
Sie gab an, sie hätt’ seit geraumer Frist
zwar die Zwischenrufe des Parteifreunds vermisst.

Doch sei’s ja nach Kohl ziemlich ruhig gewesen
und sie sei seit zwei Jahren Oma – in Seesen.
Und die Abstimmungen? Seh’n Sie, bei dem Ritual
sind doch Stimmenthaltungen völlig normal.

Zwar hätte sie sich bei der Haushaltsdebatte,
als man jede Stimme so nötig hatte
und Betz sich enthielt, schon gefragt: wieso?
Doch das sei jetzt geklärt, und das mache sie froh.

Ob nicht der Geruch …? Man müsse das fragen …
Ja schon. Doch sie hätte – wie soll man das sagen? –
dem wenig Bedeutung beigemessen:
Der Friedrich Merz hätt’ ja vor ihr gesessen.

Und man weiß ja, dass der sich wenig bewegt
und in der Kantine den Fisch nicht verträgt.
Aber sonst? „Furchtbar traurig“, sagte sie leis’,
„dass man doch so wenig vom Anderen weiß.

Zumal, wenn der von der gleichen Partei ist.
Der Grund sei, dass man so wenig frei ist
für menschliche Nähe in diesem Betrieb.“
Aber wie gesagt: ihr Enkel, ganz lieb.

Fazit: Seitdem man die Leiche entdeckt,
ist das Parlament richtig aufgeschreckt.
SPD-Chefin Eskens – als das geschah –
hat rasch durchzählen lassen: War’n alle noch da!

Und die Grünen riefen die Crew voller Eile
zum Morgenappell vor der Siegessäule.
Als einzige fehlte die Claudia Roth:
Lag danieder in großer Gewissensnot.

Lieber rot als tot? Das ärgert sie grün.
Die CSU will Konsequenzen zieh’n:
Alle singen, weil so was ja täglich droht,
jeden Morgen die Hymne. Wer nicht aufsteht, ist tot.

Die CDU dagegen reagierte ganz knapp
und lehnte jede Verantwortung ab.
„Wir sind froh“, ließ Herr Merz die Reporter abblitzen
„wenn überhaupt noch ein paar im Plenarsaal sitzen.

In welchem Zustand, ich bitte Sie,
ist das denn so wichtig? Das war es doch nie.“
Im übrigen, wenn man nicht sicher sei:
So ein Hammelsprung trenne ja Weizen und Spreu.

Naja, die Moral ist – ich sag sie mal eben –:
Wer Hymnen singt
und wie ’n Hammel springt,
kann als Staatsdiener morgen noch leben.

Klaus Pawlowski